Forschende stellen rudimentäres künstliches Gewebe her

Ein internationales Team von Forschenden unter Federführung der Universität Kiel hat ein Netzwerk aus Millionen von synthetischen „Zellen“ erzeugt

Biologische Gewebe haben erstaunliche Eigenschaften: Einerseits “kleben” die Zellen in ihnen aneinander, so dass die Verbünde relativ stabil sind. Andererseits bedeutet das aber nicht, dass jede Zelle wie ein Puzzleteilchen ihren festen Platz hat. Stattdessen sind Gewebe fluide - die Zellen in ihnen können zu einer anderen Position “schwimmen”. Beides ist wichtig, damit die Verbünde ihre Funktionen ausüben können.

Das hergestellte Gewebe besteht aus mehreren Millionen synthetischen Zellen. (Bild: AG Steinkühler, Uni Kiel)
Das hergestellte Gewebe besteht aus mehreren Millionen synthetischen Zellen. (Bild: AG Steinkühler, Uni Kiel)

Ein internationales Team von Forschenden hat nun ein synthetisches Gewebe hergestellt, das ebenfalls gleichzeitig stabil und fluide ist. Die Studie unter Federführung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ist in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications am 27. Februar 2025 erschienen. Die Verbünde bestehen aus mehreren Millionen synthetischen Zellen. Der Grundbaustein sind einfache Wassertröpfchen, die von einem fettähnlichen Häutchen umgeben sind. “Dabei handelt es sich um eine Doppelschicht sogenannter Lipide”, erklärt Prof. Dr. Jan Steinkühler vom Institut für Elektrotechnik und Informationstechnik an der CAU.

Doppelmenbran umschließt Wassertröpfchen

Derartige Membranen umschließen auch natürliche Zellen. Allerdings sind sie dort deutlich komplizierter aufgebaut. So sind in sie beispielsweise Proteine eingebettet, die wie Poren den Durchtritt ganz spezifischer Moleküle erlauben und sich bei Bedarf verschließen lassen. “Wir wissen aber schon, wie wir unsere Membranen um solche Bausteine ergänzen können, so dass sie dann bestimmte Funktionen übernehmen können”, betont Steinkühler, der Mitglied im Forschungsschwerpunkt KiNSIS ist.

Die nun erzeugten Zellverbünde sind jedoch noch sehr rudimentär. Aber sie sind dennoch ein wichtiger Schritt. Denn in vielen ihrer Eigenschaften ähneln sie lebenden biologischen Geweben. Das betrifft etwa die Größe der “Zellen”, die ungefähr 30 Tausendstel Millimeter messen. Zudem verfügen sie über ähnliche mechanische Eigenschaften. “In lebenden Zellen üben winzige molekulare Motoren Kräfte auf die Membran aus, damit sie sich beispielsweise teilen oder ihre Form ändern können”, sagt Steinkühler. “In unseren Experimenten haben wir diesen Vorgang nachgeahmt. Wir haben dazu eine molekulare Maschine genutzt, die in gesunden Zellen eigentlich nicht vorkommt: das Flagellum schwimmender Bakterien, also quasi ihren Antrieb. Wir haben untersucht, welche Auswirkungen die Kräfte, die dabei entstehen, auf das Zellnetzwerk haben. So konnten wir Rückschlüsse auf die mechanischen Eigenschaften der Zellverbünde ziehen.”

Bakterien bugsieren Zellen an andere Positionen

Dabei zeigte sich, dass die Zellen einerseits stabil zusammenkleben. Andererseits reichte die Kraft der Bakterien, um einzelne Zellen an andere Positionen im Verbund zu bugsieren. Das künstliche Gewebe scheint also ein guter Kandidat zu sein, um daran die Funktion natürlicher Zellnetzwerke zu studieren. “Wir wollen zum Beispiel Proteine in die Membranen einbringen, über die die synthetischen Zellen elektrische Potenziale erzeugen können - also winzige Spannungen”, erläutert der Wissenschaftler. “Falls uns das gelingt, können wir mit unserem Gewebe künftig nachstellen, wie Netzwerke von Nervenzellen Informationen austauschen und verarbeiten.”

Zudem ist es denkbar, medizinische Implantate mit einem künstlichen Gewebe zu überziehen, um so zu erreichen, dass sie besser einwachsen. Dazu ließen sich die Membranen beispielsweise mit Protein- oder Kohlenhydrat-Verbindungen versehen, die dem Immunsystem vortäuschen, dass es sich um eine körpereigene Struktur handelt. “Wenn wir die Gewebe so verändern, dass sie elektrische Signale übertragen, könnten sie in der Zukunft eventuell sogar als neuronale Implantate fungieren und so etwa defekte Nervenzellen ersetzen”, sagt Steinkühler. “Diese Anwendungsmöglichkeiten sind zwar noch Zukunftsmusik. Wir haben durch unsere aktuelle Arbeit aber die Grundlage dafür gelegt.”

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